Newsletter #18

Bildungsbericht 2023 – die Situation von 49000 Schulkindern kommt nicht vor

In Auftrag gegeben wurde der Bildungsbericht vom SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) und dem EDK.

In der Einleitung steht, der Bericht gebe Antworten «auf zahlreiche Fragen» und zeige gleichzeitig auf «zu welchen Fragestellungen es (noch) keine oder (noch) zu wenig verlässliches Wissen» gebe.

Was ist mit den ca. 49 000 Schulkindern mit hohem kognitivem Potenzial (die oberen 5 % der Gaussschen Glockenkurve). Gingen diese vergessen oder gibt es über sie nichts zu berichten? Lediglich im Abschnitt zum Gymnasium sind ein paar Zeilen über diese Gruppe Kinder zu finden. Aber wie sieht es in Primar- und Sekundarschule aus?

Aus unserer Praxis kennen wir die Situation dieser Schülerinnen und Schüler seit sehr langer Zeit. Wir kennen die Probleme, die schulische Unterforderung verursachen kann. Uns ist das Leid dieser Kinder und Jugendlichen, die einen grossen Teil ihrer Schulzeit mit Warten verbringen und mit für sie meist unnötigen Wiederholungen und Übungen konfrontiert werden, sehr bewusst.
Wir sehen Verlust der Lern- und Leistungsmotivation, depressive Verstimmungen und psychosomatische Beschwerden, die bis zur Schulverweigerung führen.
Und nein, es geht dabei nicht um Persönlichkeitsprobleme der Kinder oder falsche Erziehung durch die Eltern. Es geht auch nicht um arme Kinder, Opfer ihrer angeblich pushenden Eltern.
Denn sobald die Unterforderung beendet werden konnte, verschwinden diese Symptome in der Regel schnell und die Lern- und Leistungsfreude kehren zurück. Ausser, das Kind sei in eine Minderleistung gefallen. Dann kann es sehr viel länger dauern. Das darf an Schulen nicht passieren.

Es geht um Kinder und Jugendliche, die sich auf die Schule gefreut haben, die nach kurzer oder längerer Zeit die schulische Unterforderung aber nicht mehr ertragen können. Schliesslich sind sie in ihrer kognitiven Entwicklung zwei bis drei Jahre weiter als der Durchschnitt der Kinder. Das ist nicht wertend gemeint, aber eine Tatsache. Es kann niemand etwas dafür. Auch ein Skitalent kann nichts dafür, dass es in einem Training mit Skianfängern heillos unterfordert wäre. Das Glück des Skitalents: Niemand schaut es schräg an, wenn es sein Talent lebt. Es wird unterstützt und bejubelt.

Wie gesagt wird im Kapitel zum Gymnasium kurz die Begabtenförderung erwähnt:
«Neben Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen sollten auch jene mit besonderen Begabungen gefördert werden.»

Weshalb dies bei der Primar- und Sekundarschule nicht bereits erwähnt wurde? Für uns ist das ein Rätsel. Denn in den ersten Jahren ist eine solche Förderung mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger. Wer hält schon so viele Jahre Unterforderung aus?
Im Abschnitt zum Gymnasium steht, es gebe «im Zusammenhang mit Hochbegabung» nach «aktuellem Kenntnisstand keine wissenschaftlichen Studien», welche «die allgemeinbildenden Schulen oder das Gymnasium» beträfen.
Das mag sein. Aber es gibt sehr viel Erfahrung und evidenzbasiertes Wissen aus Jahrzehnten praktischer Arbeit. Und seriöse Fachbücher.

Die Autoren erwähnen in diesem Abschnitt zum Gymnasium kantonale Förderangebote: Das «Überspringen einer Klasse, die individuelle Förderung in der Regelklasse, Förderkurse, die den Unterricht in der Regelklasse ergänzen sowie die Einteilung in besondere Klassen». Spezielle Förderprogramme gebe es manchmal «in den Bereichen Sport und Musik, das Führen von zweisprachigen Maturitätslehrgängen sowie das Schülerinnen- und Schülerstudium. Letzteres ermöglicht Gymnasiastinnen und Gymnasiasten den Besuch von einzelnen Kursen an den Hochschulen. In sieben Kanton existieren keine spezifischen Regelungen zur Begabtenförderung.»


Wie so oft in der pädagogischen Fachliteratur zum Thema Hochbegabung gibt es auch hier die Vermischung von denkerischem Potenzial mit verschiedenen Begabungen wie Sport und Musik. Der wichtige Unterschied: Die schulische Unterforderung kommt bei Begabungen in Sport und Musik nicht vor (ausser wohl im Sport- und Musikunterricht).

Was nun? Die Kantone sind für den Bildungsbereich zuständig. Wir hoffen, dass diese Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen mit hohem kognitivem Potenzial besser wahrgenommen wird. Es scheint uns wichtig, dass die Erfahrungen aus der Praxis endlich gehört werden.

Wir jedenfalls wären gerne bereit, unsere Erfahrungen und unser Wissen den verantwortlichen Stellen weiterzugeben.

Für die Fachgruppe HKP des Vereins für Bildungsgerechtigkeit:
Jean-Jaques Bertschi, Dr. phil. I, Personalfachmann; Filizia Gasnakis, Gymnasiallehrerin und Qualitätsbeauftragte; Thomas Hüppi, Gymnasiallehrer und MAS IBBF; Christian Scheuermeyer, dipl. Betriebswirtschafter; Sabine Zeller, Leitung OFFH (Ostschweizer Forum für Hochbegabung) und Begabungspädagogin IFLW; Teresa Zulli, Gymnasiallehrerin und Begabungspädagogin IFLW; Elisabeth Zollinger, Lic phil I, Psychotherapeutin FSP und Autorin ‘Tabuthema Hochbegabung’.

Der Verein für Bildungsgerechtigkeit wurde gegründet für die Vorbereitung und Lancierung einer schweizerischen Volksinitiative zur Verbesserung der Situation dieser Schulkinder.